Vorrangiges Ziel von GOCE ist die Bestimmung der Detailstruktur des
Gravitationsfeldes der Erde im globalen Maßstab mit höchster
Genauigkeit. Die Satellitenmission wird die bisherige Kenntnis des
Gravitationsfeldes der Erde zumindest um einen Faktor 100 verbessern.
Damit übernimmt die ESA weltweit die Führungsrolle in Bezug auf die
Erforschung des globalen Gravitationsfeldes der Erde mit höchster
Genauigkeit und Auflösung. In der internationalen Wissenschaftsszene
gilt das Projekt als technologischer Quantensprung für die
Geowissenschaften schlechthin. Die globale Wettervorhersage und damit
die Klimaforschung, die Erforschung von Erdbebenmechanismen und die
Verbesserung der Vorhersage von Satellitenbahnen sind nur einige
Problemfelder, die damit einer Lösung wesentlich näher rücken.
Noch vor drei Jahren stand GOCE in Konkurrenz mit acht anderen
potentiellen Satellitenmissionen. Nach einer Vorauswahl vor drei Jahren
"überlebten" vier Projekte, mit deren Ausarbeitung konkurrierende
europäische Forschungslabors in den letzten Jahren intensiv befaßt
waren. Das Grazer Team hat nun gemeinsam mit einem internationalen
Konsortium den entscheidenden Durchbruch geschafft. An den
wissenschaftlichen Missions-Vorarbeiten beteiligt sind neben den bereits
genannten österreichischen Forschungseinrichtungen die Technischen
Universitäten München und Delft, die Universitäten Bonn, Kopenhagen und
Mailand, das Polytecnico di Milano, das Proudman Oceanographic
Laboratory in Birkenhead (England), die Space Research Organisation
Netherlands sowie das französische Weltraumforschungszentrum CNES in
Toulouse. Projektleiter Sünkel und sein Team werden sich nicht lange auf
ihren Lorbeeren ausruhen können, denn laut Sünkel heißt die Devise bis
zum Satellitenstart im Jahr 2004: "Vor Genuß und Freude haben die Götter
den Schweiß gesetzt".
Ausschlaggebend für die Wahl von GOCE als Nummer 1 war der hohe
wissenschaftliche Anspruch, das beachtliche Potential an
Forschungsinnovation, der multifunktionale Charakter sowie die
hervorragende Vorbereitung durch ein internationales Team.
Der GOCE-Satellit
Die Satellitenmission GOCE gilt in vieler Hinsicht als eine der
technologisch anspruchvollsten ESA-Missionen aller Zeiten. Der etwa 800
Kilogramm schwere und 4 Meter lange GOCE-Satellit wird in einer extrem
niedrigen und bisher noch nie geflogenen Umlaufbahn von etwa 250 km
operieren. Der in dieser Höhe noch vorhandene minimale Luftwiderstand
und die anderen nichtgravitativen Störeinflüsse auf den Satelliten (wie
etwa der Strahlungsdruck der Sonne) werden durch ein ausgeklügeltes
System eines extrem sensiblen Ionenstrahlantriebs ständig kompensiert,
sodaß der Satellit letztlich exakt die Bahn eines freien Falls um die
Erde fliegt. Die Bahnbestimmung erfolgt dabei mit einer unglaublichen
Genauigkeit von etwa 1 Zentimeter (!) in allen drei Raumrichtungen durch
eine Kombination von GPS (US-amerikanisches Globales
Positionierungssystem) und GLONASS (russisches Globales
Navigationssystem).
Kerninstrument des GOCE-Satelliten ist ein sogenanntes
Schwere-Gradiometer, das von der französischen Firma ONERA entwickelt
wird. Es besteht im Prinzip aus einem System von fast unvorstellbar
empfindlichen Beschleunigungsmessern, die in unmittelbarer Nähe des
Massenzentrums des Satelliten in allen drei Raumrichtungen angeordnet
sind. Aus diesen Beschleunigungsmessungen lassen sich Informationen über
die lokale Raumkrümmung des Gravitationsfeldes ableiten und alle
nichtgravitativen Störkräfte auf den Satelliten exakt bestimmen.
Letztere Informationen werden in Echtzeit als Steuersignale an das
Ionenstrahl-Antriebssystem weitergeleitet, das diese Störkräfte durch
exakt entgegengesetzten Schub kompensiert und so dafür sorgt, daß der
Satellit keine Eigenbewegungen durchführt und tatsächlich in Form eines
freien Falls ca. 10000 Erdumrundungen vollführt. Schließlich werden aus
der Information "Satellitenbahn" die großräumigen Strukturen und aus der
Information "Raumkrümmung" die kleinräumigen Strukturen des
Gravitationsfeldes als wissenschaftliches Produkt mit extrem hoher
Genauigkeit abgeleitet.
GOCE-Datenverarbeitung - ein Mega-Problem
Im Laufe seiner 20 Monate dauernden Mission wird der GOCE-Satellit etwa
100 Millionen Daten liefern, die allesamt zur Bestimmung des
Gravitationsfeldes der Erde, repräsentiert durch etwa 100.000 Parameter,
verwendet werden. Im Klartext bedeutet dies letztlich, daß
Gleichungssysteme mit etwa 100 Millionen Gleichungen zur Bestimmung von
etwa 100.000 Unbekannten zu lösen sein werden. Ein Computerausdruck des
gesamten Zahlenmaterials würde eine Fläche von etwa 3000 km2 füllen -
ein Mega-Problem im wahrsten Sinne des Wortes. Das Grazer Team für
Satellitengeodäsie hat mittlerweile auch Probleme dieser gigantischen
Dimensionen fest im Griff.
Ein Quantensprung für die Geowissenschaften
Ozeanographie, Meteorologie und Klimaforschung
Die globalen Meeresströmungen können aus den Ergebnissen der
GOCE-Mission in Kombination mit Satelliten-Altimetrie-Missionen wie
ERS-2 und ENVISAT mit absoluter Genauigkeit im Zentimeterbereich
verfolgt werden. Damit wird der Transport von Wärmeenergie durch
Meeresströmungen ungleich besser quantifizierbar als dies bisher möglich
war. Globale Wettervorhersage und Klimaforschung werden davon erheblich
profitieren. Die Datenbasis von GOCE liefert auch erstmals präzise
Informationen über die Hebungsraten des globalen Meeresniveaus als Folge
der globalen Erwärmung.
Physik des Erdinneren
Das Gravitationsfeld der Erde ist ein Abbild ihrer internen
Massenverteilung. Aus den Unregelmäßigkeiten des Gravitationsfeldes
lassen sich, in Kombination mit seismischen Daten, Rückschlüsse auf die
Art der Massenverteilung im Erdinneren ziehen. Somit eröffnet GOCE auch
einen Blick in das tiefe Erdinnere, wo gewaltige Strömungsprozesse
stattfinden. An der Erdoberfläche treten diese Prozesse wiederum durch
ihre Wirkungen - Verschiebung von tektonischen Platten, Erdbeben und
Vulkanismus - in Erscheinung. Die GOCE-Ergebnisse versprechen einen
signifikanten Fortschritt in der Erforschung der so komplexen
Erdbebenmechanismen.
Geodäsie
Das Schwerefeld der Erde (Schwere = Gravitation + Rotation) wird im
mittleren Meeresniveau durch eine ausgezeichnete Fläche, das sogenannte
Geoid, repräsentiert. Dieses Geoid stellt den Bezug für alle weltweiten
Höhensysteme dar. Derzeit ist das Geoid für viele Zwecke noch
unzulänglich bekannt. Die Folge: Die verschiedenen nationalen
Höhensysteme unterscheiden sich um mehrere Dezimeter, was erhebliche
Schwierigkeiten bei internationalen Ingenieurprojekten verursacht. GOCE
wird dieses Problem endgültig aus der Welt schaffen und zu einer
globalen Vereinheitlichung der Höhensysteme führen. Mit der Kenntnis des
globalen Geoids können aber auch die geometrischen, mittels der globalen
Positionierungs- und Navigationssysteme GPS, GLONASS und künftig GNSS
ermittelten Höhen in brauchbare Höhen (die sich auf das Geoid beziehen)
umgewandelt werden. So wird in Zukunft GPS sogar das aufwendige
Nivellieren über große Distanzen ersetzen. Aber auch für alle
Anwendungsbereiche von Trägheitsnavigationssystemen wird die exakte
Kenntnis des Schwerefeldes eine massive Verbesserung der
Navigationsergebnisse bringen.
Da die Bahnen von Satelliten weitgehend durch das Gravitationsfeld
kontrolliert werden, wird die exakte Kenntnis des Gravitationsfeldes
auch einen sehr wesentlichen Beitrag für eine erhebliche Verbesserung
der Vorhersage aller Satellitenbahnen liefern.
Rückfragen:
O.Univ.-Prof. DI. Dr. Hans Sünkel
Email:
suenkel@geomatics.tu-graz.ac.at
Tel.: 0316 873-6346
Artikeltext
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Zeit: Montag,1.1.2004, ab 9h
Ort: TU Graz, Petersgasse 16 (Physikgebäude, Hörsaal P1
Info: unter http://www.cis.tugraz.at/info
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